Zitat der Woche:

 

Bruno Wille (1860-1928)

 

"Historisch-biographische Forschung hat das bemerkenswerte Resultat ergeben, daß unter den berühmten Namen aller Zeiten und Völker, und gerade unter den größten ersten Ranges, ein auffallend hoher Prozentsatz von solchen vorhanden ist, deren mannmännlich-erotische Beziehungen unzweifelhaft feststehen.
 
Bei dem Forschen nach der gleichgeschlechtlichen Liebe historischer Berühmtheiten muß man ganz im Allgemeinen bedenken, daß der Nachweis solcher Beziehungen überhaupt eigentlich nur dann ganz zwingend gelingen kann, wenn eben die Grenze vom Feineren zum Gröberen überschritten worden ist.
 
Denn die allerechtesten gleichgeschlechtlichen Liebesverhältnisse gelten, unter dem Drucke der Prüderie, als 'Freundschaft', so lange eben jene schwankende Grenze von einer rein psychisch aussehenden Liebe zur gröberen oder besser gröbsten Sinnlichkeit nicht entschieden überschritten worden ist.
 
Ferner ist zu bedenken, daß die Möglichkeit des Nachweises von Zufälligkeiten abhängt, und daß endlich, seit dem frühen Mittelalter in ganz Europa Alle - also auch Diejenigen, deren Namen auf die Nachwelt gekommen ist - ein sehr dringendes, ja geradezu ein Lebensinteresse daran hatten, daß ihre Neigungen in dieser Richtung verborgen blieben oder sich unter dem weiten Begriffe der Freundschaft verbargen.
 
Nach dem Schema jeder statistischen Veranschlagung hat man daher nicht etwa bloß mit der Möglichkeit, sondern mit der Gewißheit zu rechnen, daß die Zahl der mehr oder weniger "uranisch" Veranlagten oder wie die Kunstausdrücke lauten mögen, unter den berühmten Männern der Völker- und Kulturgeschichte in Wahrheit noch viel beträchtlicher ist, als die Zahl der positiv nachweisbaren.
 
Und die Zahl der einwandfrei gelungenen Nachweise ist trotzdem überraschend groß. Diese für die Beurteilung der ganzen Sache und für die Aufklärung gleich wichtige Tatsache läßt verschiedene Deutungen zu.
 
Entweder hat man anzunehmen, daß die Berühmtheiten an sich keinen größeren Prozentsatz sogenannter Homosexueller aufzuweisen haben, als die Durchschnittsware der Natur; und daß die gleichgeschlechtliche Neigung der geschichtlichen Größen nur aus dem Grunde bekannt, und die in gleicher Verbreitung vorausgesetzte "Homosexualität" der Nicht-Größen nur aus dem Grunde unbekannt sei, weil wir überhaupt nur von jenen einige Kunde über ihren Lebenslauf haben, von letzteren aber nicht.
 
Nach dieser ersten der logisch möglichen Annahmen wäre also die gleichgeschlechtliche Liebe eine sehr häufige, d.h. eine allgemein menschliche Angelegenheit.
 
Oder aber, wir müssen annehmen, daß geistige und Charaktergröße mit der gleichgeschlechtlichen Neigung irgendwie einen inneren Zusammenhang habe, und das in der Tat der Prozentsatz der "Homosexuellen" unter den hervorragenden Menschen größer sei, als im Durchschnitt.
 
Eine dritte Annahme ist unmöglich. Die praktischen Folgerungen und Forderungen kommen in beiden Fällen so ziemlich auf dasselbe hinaus; und deswegen ist jene historisch-biographische Forschung sehr dankenswert, und ihr Ergebnis ebenso wichtig, wie für die Sittenreaktion vernichtend."

 

zitiert aus "Philosophie der Liebe", 1930 aus dem Nachlass herausgegeben

 

In diesem Sinne: Happy Pride Month 2025! 

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